Was Kinder über Naturwissenschaften denken
Wie gut verstehen Kinder und Jugendliche, was naturwissenschaftliches Wissen ausmacht? Laut einer neuen Studie von Forschenden der ETH Z¨¹rich und der Universit?t T¨¹bingen ist dies keine Frage der Intelligenz, sondern des Bildungshintergrundes der Eltern.
Um die grossen Herausforderungen unserer Zeit zu bew?ltigen, ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft notwendig. Daf¨¹r braucht es neben einer Wissenschaft, die aktiv, transparent und verst?ndlich kommuniziert, eine Gesellschaft, die versteht, wie naturwissenschaftliches Wissen entsteht und sich weiterentwickelt.
Wem das Wesen der Naturwissenschaften ein R?tsel ist, muss wissenschaftlichen Erkenntnissen und den damit verbundenen Technologien blind vertrauen, oder sie unhinterfragt ablehnen. F¨¹r Gesellschaften, die von der K¨¹che bis zum Klima von Technologie abh?ngig sind, ist es daher w¨¹nschenswert, wenn m?glichst viele Menschen ein realistisches Bild der Naturwissenschaften haben.
Der Grundstein f¨¹r die F?higkeit, sich kritisch mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen, wird bereits in der Schule gelegt. So enth?lt der in den Kantonen der Deutschschweiz g¨¹ltige Lehrplan 21 das Ziel, dass Kinder und Jugendliche das Wesen der Naturwissenschaften verstehen sollen. Doch ab welchem Alter sind sie dazu in der Lage? Und welche Faktoren bestimmen, ob dies fr¨¹her oder sp?ter geschieht ¨C die Intelligenz oder der Bildungshintergrund der Eltern?
Ein Team um ETH-Lernforscher Peter Edelsbrunner und Julia Schiefer von der Universit?t T¨¹bingen haben in einer repr?sentativen Studie die Antworten von 11¡¯000 deutschen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 8 und 16 Jahren ausgewertet, um diese Fragen zu beantworten.
Eine Typologie kindlichen Wissens
Die Studienautor:innen konnten dabei vier Entwicklungstypen identifizieren, die sich in ihrem Verst?ndnis von naturwissenschaftlichem Wissen unterscheiden. Kinder in der Grund- beziehungsweise Primarschule weisen in der Regel ein eher absolutistisches Verst?ndnis auf: ?F¨¹r sie ist Wissen etwas Unver?nderliches, das entweder wahr oder falsch ist und unhinterfragt aus B¨¹chern und von Lehrern ¨¹bernommen werden kann?, erkl?rt Edelsbrunner, der am Lehrstuhl f¨¹r Lehr- und Lernforschung von ETH-Professorin Elsbeth Stern forscht.
Bei vielen, aber nicht allen, ?ndert sich dieses Bild mit zunehmendem Alter. Dabei kristallisieren sich zwischen einem absolutistischen und einem ad?quaten Verst?ndnis zwei ?bergangstypen heraus: Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen beginnt sich selbst als Quelle von Wissen zu sehen und setzt dieses mit Meinungen gleich. In dieser Phase muss Wissen nicht mehr unbedingt wahr oder falsch sein. Obwohl Platz f¨¹r unterschiedliche Haltungen entsteht, werden diese aber meist als gleichwertig angesehen. ?Den Kindern und Jugendlichen fehlt in dieser Periode noch die F?higkeit, zwischen besser und schlechter begr¨¹ndeten Aussagen zu unterscheiden. Die Meinung der Freundin oder des Freundes ist gleich gut wie jene der Lehrperson?, so Edelsbrunner.
Im Unterschied dazu betrachtet eine weitere Gruppe Wissen als etwas rein Objektives und Empirisches, das entsteht, wenn Wissenschaftler:innen Daten sammeln und Experimente durchf¨¹hren. Diese Kinder und Jugendlichen vertrauen der Wissenschaft blind und sch?tzen ihre eigenen naturwissenschaftlichen Kompetenzen hoch ein. Was ihnen jedoch fehlt, ist die Einsicht, dass sich auch Forschende uneinig dar¨¹ber sein k?nnen, wie Daten zu gewichten und Erkenntnisse zu bewerten sind.
Jugendliche vermehrt mit ad?quatem Bild der Wissenschaft
Der Studie zufolge kommen diese beiden ?bergangstypen mit zunehmendem Alter weniger h?ufig vor, und immer mehr Kinder und Jugendliche weisen ein ad?quateres Bild auf. Sie sehen Wissen als etwas Komplexes, das sich weiterentwickelt und das man sich selbst erarbeiten muss. Sowohl Menschen im Alltag als auch Forschende k?nnen zwar unterschiedliche Meinungen vertreten, doch deren Gewicht und Relevanz h?ngen davon ab, wie gut sie durch Evidenz aus unterschiedlichen Quellen untermauert sind.
Diesen Kindern und Jugendlichen f?llt es auch leichter, sich Wissen selbst anzueignen. Sie empfinden widerspr¨¹chliche Informationen nicht als bedrohlich und sehen die Aufl?sung dieser Widerspr¨¹che eher als Herausforderung. Dar¨¹ber hinaus sind sie im Stande zu bewerten, welchen Informationen sie vertrauen k?nnen und wie sie mit Meinungen umgehen, die nicht mit ihren ?berzeugungen ¨¹bereinstimmen.
Jedes Kind hat sein Tempo
?Obwohl wir in den Daten ganz klar eine altersbedingte Entwicklungslogik finden, durchlaufen Kinder diese Stufen in ihrem eigenen Tempo?, sagt Lernforscher Edelsbrunner. W?hrend ein Drittel von 680 befragten Kindern, die in der Grundschule ein naturwissenschaftliches F?rderprogramm absolvierten, bereits ein sehr realistisches Verst?ndnis von Wissenschaft aufweisen, erreicht ein nicht unerheblicher Teil diesen Punkt niemals.
So finden die Autor:innen, dass sogar im Gymnasium noch rund ein Drittel der knapp 800 befragten 14- bis 16-J?hrigen ein absolutistisches Verst?ndnis von naturwissenschaftlichem Wissen aufweist. Dass es diese Sch¨¹ler:innen bis in die letzten Stufen des Gymnasiums geschafft haben, zeigt, dass man den Gymnasialstoff auch bew?ltigen kann, ohne zu verstehen, wie Wissen beschaffen ist.
Um Jugendlichen ein ad?quateres Bild der Naturwissenschaft zu vermitteln, empfehlen die Studienautor:innen im Unterricht besser zu veranschaulichen, wie Wissen entsteht und sich weiterentwickelt. Dies kann dadurch erfolgen, dass Sch¨¹ler:innen selbst Experimente durchf¨¹hren und lernen, wie man mit widerspr¨¹chlichen Ergebnissen konstruktiv umgehen kann. Zudem k?nnen Lehrkr?fte anhand ber¨¹hmter Wissenschaftler:innen wie Charles Darwin, Marie Curie oder Albert Einstein erl?utern, wie neue Erkenntnisse aus Beobachtungen, empirischen Widerspr¨¹chen und Anomalien entstanden sind.
Bildungsabschluss der Eltern wichtiger als Intelligenz
Zwischen der Intelligenz von Kindern und Jugendlichen ¨C also der F?higkeit, in einer neuen Situation Zusammenh?nge und Muster zu erkennen ¨C und ihrem wissenschaftlichen Verst?ndnis scheint es der Studie zu Folge kaum einen Zusammenhang zu geben. Im Gegensatz dazu fanden die Forschenden jedoch, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Familien fr¨¹her und besser verstehen, wie Wissen beschaffen ist.
In diesen Familien wird in der Regel fr¨¹her und intensiver ¨¹ber wissenschaftliche Themen gesprochen. Eltern mit h?herem Bildungsabschluss tendieren zudem dazu, ihre Kinder st?rker zu motivieren, sich ¨¹ber wissenschaftliche Fragen eigene Gedanken zu machen und f¨¹hren sie dadurch eher an ein realistisches Bild der Wissenschaft heran.
11¡¯000 Sch¨¹ler:innen befragt
Die Studie beruht auf einer Metaanalyse von bereits bestehenden als auch neu durchgef¨¹hrten Befragungen. Von der Grund- und Mittelschule, ¨¹ber die Sekundarschule bis hin zum Gymnasium wurden Kinder und Jugendliche aus mehreren deutschen Bundesl?ndern untersucht. Diese mussten Aussagen bewerten wie ?Was Naturwissenschaftler:innen herausfinden, muss man glauben? oder ?Alle Fragen in den Naturwissenschaften haben genau eine L?sung?.
Aufgrund des repr?sentativen Charakters der Studie gehen Edelsbrunner und seine Co-Autor:innen davon aus, dass die Ergebnisse in der Schweiz ?hnlich ausfallen w¨¹rden. Lediglich der Unterschied zwischen Gymnasiast:innen und Sch¨¹ler:innen anderer Schulformen w?re vermutlich gr?sser, da in der Schweiz ¨¹berwiegend Jugendliche aus bildungsnahen Haushalten den Sprung ins Gymnasium schaffen.
Dar¨¹ber ist Edelsbrunner besorgt, denn im Umkehrschluss w¨¹rde er an Sekundar- und Berufsschulen einen hohen Anteil an Sch¨¹ler:innen mit einem weniger weit entwickelten Wissenschaftsverst?ndnis erwarten. Aus der Schweiz konnten die Autor:innen jedoch keine passenden Daten zum Thema finden. Es liegt daher an zuk¨¹nftigen Studien, sich dieser Forschungsl¨¹cke anzunehmen.
Literaturhinweis
Schiefer J, Edelsbrunner P, Bernholt A, Kampa N, Nehring A: Epistemic Beliefs in Science ¨C A Systematic Integration of Evidence From Multiple Studies. Educational Psychology Review 2022, doi: externe Seite10.1007/s10648-022-09661-wcall_made